Claude E. Shannon: Eine Maschine, die Labyrinthe löst
I.
Der Mythos ist eine Erzählung, die sich unendlich, im Raum und in der Zeit, verzweigt. Die Geschichte etwa von der Fahrt des griechischen Helden Theseus von Athen nach Kreta kennt zwei Versionen.
In der einen kommt der kretische König Minos persönlich über's Meer nach Athen gefahren, um sich die 7 schönsten Knaben und 7 schönsten Mädchen auszusuchen, die nach dem Sieg des Minos über die Griechen jedes Jahr dem stierköpfigen Ungeheuer Minotaurus zum Fraß vorgeworfen werden sollen. Der Grund, warum Minos selbst die Seereise unternimmt, ist einfach: die Griechen haben zu dieser mythischen Heroen-Zeit von Seefahrt keine Ahnung. Auf der Überfahrt mit Minos' Schiff kommt es dann zwischen dem kretischen König und dem athenischen Königssohn Theseus, der eines der 14 Opfer ist, zum Streit. Er endet mit einer Probe. Theseus soll auf dem Grund des Meeres nach einem Ring tauchen. Er springt, unter den auf dem Schiff bleibenden Opfern bricht Geschrei und Wehklagen aus. Kraft Abstammung ist der Königssohn jedoch der Prüfung mühelos gewachsen. Theseus ist halb oder ganz ein Sohn des Poseidon und so nehmen ihn im Wasser sofort Delphine auf, die ihn in den Palast Poseidons und Amphitrites tragen. Geblendet vom Glanz der 50 Nereiden erhält er den Ring, taucht an die Oberfläche und die Fahrt ins Verderben geht weiter.
In der anderen Version macht vor der Fahrt nach Kreta der Herrscher
von Salamis, Skiros, den seeuntüchtigen Athenern ein Geschenk. Der
Steuermann Nausithoos und Phaiax als zweiter Offizier (als proreus, der
auf dem Platz der Prora, dem Vorschiff der Triere, sitzt; also die zwei
wichtigsten Posten) sollen die Fahrt des Theseus schaukeln. Zum Dank für
ihre Dienste begründet Theseus nach überstandener Reise für
die beiden, die später zu Patronen aller griechischen Seefahrer werden,
eine alljährlich stattfindende Riesenparty: die sogenannten Kybernesia,
die im Heiligtum des Skiros auf Salamis stattfinden.
Die Theseus-Geschichte
Der weitere Verlauf der Theseus-Geschichte ist so bekannt, wie philologisch in allen Einzelheiten mehrfach besetzt. Die 14 Knaben und Mädchen sollen dem Minotaurus geopfert werden, einem Wesen mit Stierkopf und menschlichem Körper. König Minos hatte, um seinen Anspruch auf die Herrschaft in Kreta zu befestigen, Poseidon um einen Stier aus dem Meer gebeten, den er dem Gott opfern will. Poseidon erhört ihn und schickt einen prächtigen Stier. Doch Minos, statt den Stier zu opfern, macht daraus ein Haustier und verleibt ihn seiner Herde ein. Der Gott zürnt, er rächt sich göttlich und gemein: der Stier wird wahnsinnig und die Frau des Minos, Pasiphae, verliebt sich in den Stier. Sie zeugt mit ihm jenes Ungeheuer aus Stier und Menschengestalt, den Minotaurus, der in der Ilias auch als »Asterion« oder »Asterios« bezeichnet wird und oft mit sternenübersätem Körper dargestellt ist. Der große Erfinder Daidalos errichtet für das Ungeheuer in Knossos ein Gebäude: das sogenannte Labyrinth. Kaum kommt Theseus mit den 14 Geiseln in Knossos an, verliebt sich die minoische Königstochter in ihn. Sie hilft ihm, den Stier im Labyrinth zu töten. Nach der einen Version schenkt sie ihm ihre Krone oder Diadem, dessen Glanz dem Theseus aus der Finsternis der Labyrinthgänge hilft. Gold und Diamanten des Diadems werden später zum Sternbild.
Nach der zweiten, bekannteren Version schenkt Ariadne auf Anraten des Daidalos dem athenischen Königssohn ein wenig feierliches, aber praktisches Attribut: ein Fadenknäuel. Theseus soll es an den Türpfosten des Eingangs zum Labyrinth binden. Nach dem Kampf mit Minotaurus könnte er den Faden rückwärts wieder aufrollen und den Weg zurück finden.
Soweit die Sage. Wo und wann ihre einzelnen Zweige entstehen, ist meist
unsicher. Eins aber scheint unzweifelhaft: der geographisch-historische
Hintergrund der kretischen Ausfahrt des Theseus ist Aufstieg und Fall einer
frühen Seemacht des Mittelmeers: der Insel Kreta. Um 1570 vor Christus
datiert man das Ende der Kamareszeit und den Beginn der dritten mittelminoischen
Periode, aus der die jüngeren Paläste von Knossos und Phaistos
stammen. In den Ruinen des um 1425 zerstörten, weitverzweigten Palastes
von Knossos sieht die spätere griechische Überlieferung das Labyrinth
des Minos. Wellcher Art aber die Macht ist, aus deren archäologischen
Spuren schon die Antike selbst den Mythos einer großen Macht, mit
Pynchon: einem bad ass, bastelt, ist strittig.
Spenglers Fragmente über »Die Weltgeschichte im zweiten vorchristlichen Jahrtausend«
Der große Dromologe und Nomadologe Oswald Spengler baut in seinem letzten Werk auf dem Problem der kretischen Seemacht eine ganze Theorie vom Beginn der Weltgeschichte als solcher, d. h. bescheidener: der griechischen Kultur. Spenglers Fragmente über »Die Weltgeschichte im zweiten vorchristlichen Jahrtausend« (veröffentlicht 1935) lassen alle Spenglerschen Gestalten untergehen »in Stilen der Bewegung zu Lande und zu Wasser - rudernd, gehend, fahrend, reitend«, »in Art und tiefem Sinn der Waffen«, im »Tempo als Waffe«, in der »Taktik des Krieges und ihrer Fortsetzung in politischen Verhandlungen und Verträgen« (210). Das Abendland wird unversehens zur bloßen Fahrtrichtung von Nomaden der freien Ebene und des offenen Meers (182). In einer Art heiliger Wut tritt Spengler den Beweis einer weitereichenden These an: die großartigen Paläste und scheinbaren Königssitze von Knossos und Phaistos und Hagia Triada bezeugen alles, nur keinen kretischen Staat. Spengler: »Das Bild des minoischen Lebens sieht nicht nach >Staat< aus.« (175)
Die Beweise scheinen erdrückend:
1. Erstens sei Knossos, so Spengler, nie ein Zentrum gewesen und schon gar nicht ein Königssitz. Handel und Schiffahrt spielen sich nicht in der Mitte, sondern an der Ostspitze der Insel ab. In Knossos hätten allenfalls Priester gesessen, die einen merkwürdigen Totenkult verwalteten und »denen man den Schutz der gemeinsamen Archive anvertraute« (227).
2. Zweitens sei der vermeintliche König Minos auf seinem berühmten Thron nur eine Leiche, die auf einem Thron sitzt, eine Mumie oder ein Vogeltier.
3. Und drittens sei die kretische Seemacht kein geschlossenes Gebilde, sondern bestehe aus »Seestämmen« oder »Seeherren« im Plural, also lokalen Clans, die jeder nur durch eins zusammengehalten werden: einen bestimmten, gänzlich neuen Typ von Seefahrt. Die kretische Macht gleiche eher der Hanse als einem Staat.
Die Seefahrt der Kreter aber ist nach Spengler nichts weniger als eine
dromologische Zeitenwende. Sie läßt sich auf eine kurze Formel
bringen: Übergang vom Kahn zum Schiff. Die Schiffahrt der Ägypter
etwa sei immer nur ein Treideln entlang der Küsten gewesen, zum Fischfang,
die Kähne mit wenigen Leuten besetzt. In der Seefahrt der Kreter dagegen
befahren Schiffe mit Mannschaften das offene Meer. »Der Kahn setzt
über, ein Schiff fährt Tage und Nächte lang.« (179)
Den Nomaden des Landes mit ihren Streitwagen in der freien Ebene (Einfall
der Indogermanen) entsprechen die Nomaden des offenen Meeres.
Topos der Richtung und Richtungsangaben
Abgesehen von der teuren Ausrüstung, die nur in Genossenschaften
und größeren Verbänden, eben kleinen Seevölkern zu
leisten ist, steht erst die Seefahrt auf dem offenen Meer vor dem neuen
Problem der Navigation, der Orientierung. Sie folgt nicht mehr dem Verlauf
von Küsten, sondern absoluten Richtungen. Spengler sucht den Topos
der Richtung und Richtungsangaben während des zweiten vorchristlichen
Jahrtausend zunächst sprachgeschichtlich. Tartessos und Alaschia etwa,
später Tartaros und Elysium, sind dann keine Orte, sondern bloße
Richtungsangaben aus der kretischen Seemannssprache: Tartaros Westen, Elysium
Osten. »In den überlieferten Namen müssen massenhaft die
Worte für West, Ost, Nord und Süd aus verschollenen Sprachen
stecken, so abgeschliffen und so häufig aus einer Sprache in eine
andere übernommen, daß sie sich nicht mehr erkenne ließen
...« (172) Aus Himmelsrichtungen werden dann oft nur links und rechts.
»Blickt man nach Osten, ist der Süden rechts.« Da griechische
Seher etwa bei der Vogelschau immer nach Norden blicken, ist links der
Westen. (Es gibt in dieser »vorgeschichtlichen« Zeit nach Spengler
meist überhaupt keine Ortsnamen. Die Welt zerfällt in »Wir«
- Berg bleibt »Berg«, da er nicht von außen geortet werden
muß, und Fluß »Fluß« - und zweitens »Dort«:
und da zählt die Richtung, in der das Dort erreichbar ist.) Wichtig
ist der Punkt, von dem aus die Richtung oder ein Begriffspaar wie Tartaros/Elysium,
Ost/West gedacht wird: der Mittelpunkt, hier eben die Insel Kreta mit ihrer
zentralen Lage im östlichen Mittelmeer zwischen griechischem Festland,
Kleinasien und Nordafrika. Der Rest sind Vektoren, die von da ausgehen.
Sternenkunde
Von der Bedeutung der Sternenkunde, Abendstern, großer und kleiner Bär, die zusammen mit der Rechenkunst die Phönizier eingeführt haben sollen, spricht Spengler mit keinem Wort (dafür sein Gewährsmann August Köster: 191 f.). Man kann aber annehmen, daß Lotsen und Wegführer für das, was Spengler »Schiffskarawanen« nennt, ein Wissen von den Sternen hatten (oder zumindest später die Griechen: erste astronomisches Lehrbuch Thales von Milet 600 v. Chr.). - Um es also kurz zu machen: die Sage von Theseus' Fahrt nach Kreta, die Sage von Minotaurus und Ariadne und die Geschichte eines konstruierten Gebildes beginnt, das aus Wegen, Orientierungen, Richtungen, Richtungswechseln und einem Wesen besteht, das durch es hindurchlaufen muß: also dem sogenannten Labyrinth von Knossos (von gr. labrys, die Axt, dem Attribut des Minos) würde sich am Ende genau in die dromologische Sage Spenglers von den kretischen Seestämmen, nomadischer Seefahrt und Vektoren einfügen. Das Labyrinth folgt von Anfang an einer nomadischen Logik, nach Deleuze/Guattari der Logik der Kriegsmaschine, nicht des Staatsapparats.
Darauf würde nicht nur Theseus' Abstammung vom athenischen Lieblingsgott
Poseidon hinweisen, sondern auch seine Steuermänner Nausithoos und
Phaiax und die Sternenwesen Minotaurus und Ariadne und ein Faden als Orientierungshilfe.
Die nomadologischen Gesetze
Die nomadologischen Gesetze gälten am Ende auch noch dort, wo die traurige Feststellung zu machen ist, daß Labyrinthe zunächst mit Irrgärten und ihren Orientierungsproblemen überhaupt nichts zu tun haben, Ariadnes Faden also glatt verschenkt scheint. Denn was als das kretische Labyrinth mit sieben Gängen bezeichnet wird, kennt nur einen Eingang und führt sicher zum Mittelpunkt. Es kennt keine Irrgänge oder blinden Alleen. Um es zu durchschreiten genügen sieben Richtungswechsel (über seine Erzeugungs-Regel werden wir gleich noch ein paar Worte verlieren). Es wird es meist von mehreren durchschritten und dürfte ursprünglich eine Tanz-Vorschrift gewesen sein für einen Tanz, den Theseus selbst bei seiner Rückkehr auf Delos gestiftet haben soll: den Geranos oder Kranichtanz. Ob die 14 Tänzerinnen und Tänzer zwischen den Begrenzungen durchlaufen oder auf den Begrenzungen, die dann eine »Bewegungsspur« (Kern, Labyrinthe: 51), ein Faden der Bewegung ist, ist philologisch ungesichert.
Was entsteht, ist jedenfalls ein Gebilde, das sehr nahe an einer Art Ornament ist (und das Labyrinth wird oft durch Mäander begleitet oder abgekürzt). Nun ist aber das Ornament eine Kunst, die nach Spengler alle Gestalten, alle abbildende Kunst auflöst in »unwillkürliche Führung, Ordnung und Verteilung der spiralig und wellenförmig bewegten Liniengebilde« (217). Die ornamentale Kunst auf Waffen, bewegten Pfeilspitzen, Geräten ist nach Deleuze/Guattari Kunst der Nomaden, nicht der Seßhaften oder Staaten (Ägypten). Das Labyrinth wäre am Ende deren Logo oder Graffiti.
Soweit also die Sagen vom Labyrinth aus dem zweiten vorchristlichen Jahrtausend, »um 1600« vor Christus, wie Spengler konstant in Anführungszeichen schreibt. - Das nomadische Gesetz des Labyrinths setzt sich fort. Am Ende des zweiten nach-christlichen Jahrtausends finden in New York Kybernesia besonderer Art statt. Im Jahre Eintausendneunhundertzweiundfünfzig lädt die Macey Foundation zum 8. Kongreß für »Cybernetics, circular causal and feed-back in mechanisms in biological and social systems«. Am zweiten Tag der Konferenz stellt der bekannte Nachrichtentheoretiker, Bastler und Maschinen-Entertainer Claude Elwood Shannon der versammelten Gemeinde der Steuermänner und drei Steuerfrauen einen Automaten vor, der, so der Informatiker Lothar Budach, »eine der ersten kybernetischen Maschinen« ist, die je gebaut wurden: die sogenannte »Maus von Shannon«, die ihr Konstrukteur schlicht »Theseus« taufte (und die DDR-Kybernetik »Abtastautomaten«).
Das Publikum, das sich da über dieses Gebilde beugt, bezeugt schon
durch seine Zusammensetzung die Geburt einer neuen modellbildenden Überwissenschaft.
In ihr trifft sich das gesamte Wissen einer Nachkriegsepoche.
II.
Die Vorführung von Shannons maze solving system findet Mitte März
1952 im Rahmen der 8. Kybernetikkonferenz der Josiah Macy Jr. Foundation
in New York statt. Die Cybernetics-Gruppe ist eine von damals 13 in unregelmäßigen
Abständen tagenden Macy-Konferenzgruppen, die sich unter anderem mit
Leberkrankheiten, Blutgerinnung und Problemen des Älterwerdens befassen.
In dieser Gruppe, sie gilt intern als »the >wildest<«[1],
geht es um Feedbackmechanismen in biologischen und sozialen Systemen. Ein
von Anfang an interdisziplinär angelegtes Forschungsprogramm, dessen
Ziel es ist, »to break down the walls between the disciplines and
get interdisciplinary communication«,[2] und zwar zwischen den Naturwissenschaften
auf der einen (Physik, Biologie) und den Menschen- und Sozialwissenschaften
auf der anderen Seite (Psychologie, Soziologie). Angestrebt ist eine neue,
umfassende Wissenschaft vom Menschen: »Thus in the study of man we
may find eventual unification of all sciences.«[3] Solche Studien
aber müssen, so kurz nach dem II. Weltkrieg, die Feindschaft mit einschließen
- es soll also auch darum gehen »to learn something about the nature
of hostility«.[4] Daß dieser Weltkrieg selbst von interdisziplinären
Effekten gezehrt hat, spricht Norbert Wiener vom Department of Mathematics
des MIT auf einer der Konferenzen offen aus: »The physicists have
given us the ultimate of hostility and the psychologists have conditioned
us to be able to use it.«[5] Im Nachkrieg heißt Interdisziplinarität
dann nicht mehr, Bomben zu bauen und gleichzeitig die Piloten zu konditionieren,
die sie abwerfen sollen, sondern zum Alltag zurückzukehren und z.
B. militärische Psychotechniken wie »group feeling« zur
zivilen Sozialtugend zu erklären.[6]
Shannon: Lernexperiment & Labyrinth
Etwas anderes aber ist es, wenn der Nachrichtentheoretiker Claude Shannon, angestellt bei den Bell Telephone Laboratories in Murray Hill, N.J., als Gastreferent der 8. Konferenz 1951 den Menschen einfach vergißt und noch einmal das erste psychologische Lernexperiment - das Labyrinth - aufrollt, nun allerdings als reines Maschinenproblem. Die Zuhörerschaft ist, soweit sie sich damals zu Wort gemeldet hat, im Protokoll namentlich genannt. Anwesend sind u. a.: Warren McCulloch vom Department of Psychiatry der University of Illinois in Chicago, der Chairman der Konferenz, Heinz von Foerster vom Department of Electrical Engineering der University of Illinois in Urbana, der Sekretär der Gruppe, Leonard Savage vom Institute of Radiobiology and Biophysics, University of Chicago, Walter Pitts, Mathematiker am MIT, Margaret Mead vom Museum für Naturgeschichte in New York, Julian H. Bigelow vom Electronic Computer Project des Institute for Advanced Study in Princeton, Hans Lukas Teuber vom Department of Neurology der New York University.
Das Gruppenbild mit drei Damen stammt von der 10. Konferenz, die 1953
in Princeton, N.J., stattgefunden hat. Man posiert, wohl nicht zufällig,
vor einem Seestück, das drei Masten links neben dem Kopf von Gregory
Bateson (Veterans Administration Hospital, Palo Alto, Calif.) herausragen
läßt. Es fehlt hier im übrigen John von Neumann, der ebenfalls
zur Konferenzgruppe gehörte, ebenso Norbert Wiener. Shannon steht
in der dritten Reihe rechts außen.
Kybernetik
Selbstverständlich verweist das Hintergrundmotiv des Segelschiffs
auf die Etymologie des Wortes »Kybernetik«. Kybernetiké
gehörte in Griechenland zu den technai und bezeichnete die Steuermannskunst.
Auch die Aufgabe eines römischen gubernator war das Steuern eines
Schiffes. Bereits in Griechenland aber, genauer gesagt bei Platon, erhält
das Wort seinen metaphorischen gouvernementalen Sinn: Kybernetik als Kunst,
einen Staat zu regieren. Das Französische kennt zwar noch gouvernail
(das Ruder), die nautische Bedeutung des Wortstamms ist hier aber stark
in den Hintergrund getreten. Es dominieren gouvernement, gouverner usw.;
ebenso im Englischen (government, to govern). Hier im Englischen erhält
das Wort »governor« erst 1790 durch James Watt wieder einen
dezidiert technischen Sinn: Watt bezeichnet so den Fliehkraftregler, der
die Geschwindigkeit seiner Dampfmaschine auf einem konstanten Niveau hält.
Maxwells »Theory of Governors« greift diese Benennung 1868
auf. Nach dem II. Weltkrieg nimmt die Wortgeschichte dann eine entscheidende
Wende: Mit Norbert Wieners 1948 erschienenem Buch »Cybernetics, or
Control and Communication in the Animal and the Machine« kehrt nämlich
die alte griechische Form des Wortes wieder und damit auch seine nautische
Herkunft: Kybernetik also als technè, als Seefahrkunst, Navigationskunst.
Die Konnotationen, die den Staat und seine Lenkung betreffen, bleiben hingegen
der lateinischen Form gubernator und seinen Ableitungen vorbehalten. Offensichtlich
waren es die militärisch-technologischen Eskalationen vor allem des
See- und Luftkriegs, die es nach 1945 nahelegten, auch etymologisch zwischen
maschinellen Steuertechniken und staatlicher Steuerung oder Regierung zu
betonen. Da in Shannons maze solving system aber, wie gesagt, die Kybernetik
mit den Menschenwissenschaften zusammentrifft, ist es zunächst unumgänglich,
kurz zu skizzieren, welche Rolle Steuerungsprobleme zuvor auf diesem epistemologischen
Feld gespielt haben.
Über das Marionettentheater
In der deutschen Literaturgeschichte gibt es einen berühmten Text, der die Selbststeuerung von Bewegungssubjekten als regierungslosen Ausnahmezustand beschreibt. Es handelt sich um Kleists 1810 erschienenen Aufsatz Über das Marionettentheater, der, wie Wolf Kittler gezeigt hat, im Kontext der Kleistschen Partisanendichtung gelesen werden muß.[7] Gegen das barocke Ballett, sprich: Exerzierreglement, setzt Kleist hier als eine »für den Haufen erfundene Spielart« dieser »schönen Kunst«[8], die auf jede »Ziererei«[9] verzichtet: das Marionettentheater als taktisches Modell für den Partisanenkrieg.
Den Marionettenspieler nennt Kleist bekanntlich >Maschinisten< und
spricht ihm die Aufgabe zu, die Puppen zu >regieren<. Wie bei James
Watt soll auch bei Kleist letztlich eine Mechanik diese Aufgabe übernehmen.
Warum die Steuerung im Schwerpunkt der Puppe bzw. des Skeletts ansetzt,
braucht hier nicht weiter zu interessieren. Wichtig ist allein, daß
die Gesetze dieser Bewegungsregierung nicht als choreographisch-geometrische
Vorschriften vorliegen, sondern in der Bewegung selbst enthalten sind.
Kleist nennt sie mit Recht »etwas sehr Geheimnisvolles«[10],
denn von einer Bewegungsphysiologie kann noch keine Rede sein, als sein
Aufsatz 1810 erscheint.
Mechanik der menschlichen Gehwerkzeuge
Seine experimentelle Umsetzung erfährt Kleists Projekt 1836, und zwar durch Wilhelm Weber, Professor der Physik in Göttingen, und seinen jüngeren Bruder Eduard, Prosektor in Leipzig. In ihrer Untersuchung zur Mechanik der menschlichen Gehwerkzeuge gehen sie davon aus, daß es der »Mechanismus unseres Körpers« ist, nach dessen »Gesetze[n]« »ein erwachsener Mensch sich [zu] bewegen« gelernt hat.[11]
Der Mensch bindet seine Bewegungen an bestimmte Regeln (wenn er auch diese Regeln nicht in Worten auszusprechen weiss), und diese Regeln sind ganz auf den Bau seines Körpers und auf die gegebenen äusseren Verhältnisse begründet, und lassen sich daher hieraus wieder herleiten.[12]
Im Unterschied zu all jenen Spielzeugen des 18. Jahrhunderts, die, wie
etwa Vaucansons berühmter Flötenspieler, nichts anderes als Triumphe
der Uhrmacherkunst waren, ist die Webersche Mensch-Maschine also nicht
festgestellt, sondern hinsichtlich ihrer Bewegungsabläufe optimierbar.
An die Stelle von Federn und Pendelschwingungen tritt damit ein System,
dessen Automatismen korrigierbar sind. Seine Bewegungen fallen weiterhin
unter die Gesetze der Mechanik, nun jedoch unter den speziellen Bedingungen
eines anatomisch-physiologischen Apparats. Gegenstand der Untersuchung
ist somit wie bei Kleist die lebendige Bewegung, die ihre Gesetze selbst
enthält.
Die lebendige Bewegung, das Gehen ...
Die weiteren Etappen dieser Geschichte, in der das Gehen immer wieder als exemplarischer Fall erscheint, sollen hier nicht im einzelnen beschrieben werden. Andeuten möchte ich nur, daß die Anatomie, die bei den Webers noch das Hauptgewicht der Untersuchungen trägt, zunächst durch elektrophysiologische Untersuchungen (Guillaume Duchenne de Boulogne, um 1860) ersetzt wird, bei denen mit Hilfe von Wechselstrom einzelne Muskeln zur Kontraktion gebracht werden. Der nächste wichtige Schritt ist die hinlänglich bekannte Bewegungsaufzeichnung durch Kurvenschreiber und elektrifizierte Serienphotographie (Marey, Muybridge). Am Ende steht mit dem amerikanischen Arbeitswissenschaftler Frank Bunker Gilbreth, einem abtrünnigen Schüler Taylors, ein rein kinematographisches Bewegungsstudium, das die Arbeiter im Wortsinn zu Servomechanismen des Films macht. Servomechanismen - von lateinisch servus: der Sklave - sind Systeme, die dadurch definiert sind, daß in ihnen zwischen Steuerung/Information und Energie/Arbeit unterschieden wird. Bereits Taylor hatte sein scientific management auf der Prämisse aufgebaut, die Unterscheidung von Herrschaft und Knechtschaft sei in eine technische Unterscheidung zu übersetzen, woraufhin er die Organisation und Kontrolle der Fabrikarbeit einem Stab von sogenannten Beamten übertragen hatte, die in den Fabriken ein Regime der Stoppuhr errichteten. Gilbreth hingegen unterstellt die Arbeiter nun allein dem technischen Medium Film und den daraus gewonnen Bewegungsmodellen.
Gilbreths Bewegungskurven sind zugleich Spur und Norm, zugleich Empirie
und Modell, und in der Kluft, die diese beiden Seiten trennt, entfaltet
sich sein Programm der Bewegungsoptimierung. Indem Gilbreth aber Bewegungsstudium
und Ermüdungsstudium theoretisch nicht voneinander zu trennen vermag,
bleibt sein Konzept noch dem energetischen 19. Jahrhundert verpflichtet.
Sein Arbeiter ist mithin ein routiniertes Subjekt, das ständig mit
Müdigkeit zu kämpfen hat.
Regelungstechnik
In den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts gelingt es dann Nikolai Bernstein, dem Leiter des biomechanischen Labors im Zentralinstitut für Arbeit in Moskau, das Bewegungsstudium von einem Diskurs der Normierung zu einem Diskurs der Regelungstechnik zu führen. Seine Untersuchungen setzen ein, wo Gilbreths Arbeiten endeten: bei zyklischen Bewegungskurven. Wo Gilbreth nur Gestalten sah, sieht Bernstein nun unbewußte neurophysiologische Regelkreise. Er stellt fest,
»1. daß zwischen zentralem Impuls und Bewegung kein eindeutiger Zusammenhang besteht und auch gar nicht bestehen kann,
2. daß dieser Zusammenhang um so weiter von einer Eindeutigkeit entfernt ist, je komplizierter die in Bewegung gesetzte kinematische Kette ist, und
3. daß die Bewegung nur möglich ist, wenn eine ganz subtile,
kontinuierliche, zuvor nicht absehbare Abstimmung der zentralen [Nerven-]Impulse
mit den in der Körperperipherie ablaufenden Erscheinungen stattfindet,
die häufig von diesen zentralen Impulsen quantitativ in geringerem
Maß abhängen als von dem äußeren Kraftfeld.«[13]
selbstregulierende Systeme
Diese Öffnung von Automatismen zu selbstregulierenden Systemen bleibt allerdings zunächst auf das Feld der Motorik beschränkt. Auf dem Feld des Verhaltens und damit des Wissens geht es hingegen unter dem Stichwort des Reflexbogens, der sich eben nicht zu einem Reflexring mit sensorischem Korrekturmechanismus schließt, weiterhin um die bloße Einschreibung von Gewohnheiten. Beim unbedingten Reflex, so Pawlow, existiert im Organismus bereits »eine direkte Leitung für den nervalen Strom«, beim bedingten Reflex hingegen muß »erst eine Bahn gebildet werden«. Damit eine solche bedingte »Bahnung« aber überhaupt denkbar wird, müssen sich »im Zentralnervensystem zwei verschiedene zentrale Apparate« befinden: »einer zur direkten Leitung des nervalen Stroms und ein Apparat zu dessen Schließung und Unterbrechung.« Die Physiologie der höheren Nerventätigkeit handelt also lediglich von einem »Ein- und Ausschalten des elektrischen Stroms«[14], wobei entscheidend ist, daß dieses Netzwerk aus Leitungen und Relais keine Rückkopplungsschleifen aufweist. Die Schaltungen oder Bahnungen, die hier stattfinden, eröffnen den Subjekten fest umrissene Aktionsfelder, die nur durch neue Bahnungen variierbar sind. Unter diesen Vorzeichen, die auch für Watsons Behaviorismus gelten,[15] ist Lernen nichts anderes als ein ständiger Neuerwerb von Gewohnheiten. Die Fähigkeit dazu wird bekanntlich zunächst an Ratten untersucht, und zwar indem man sie durch ein Labyrinth schickt.
»Was wichtig ist«, so Lacan zu diesem Typ von Experiment,
»das ist, daß man die Frage des Wissens transformiert in die
eines Lernens. Wenn, nach einer Reihe von Versuchen und Irrtümern
- trials and errors, man hat die Chose auf Englisch gelassen, angesichts
derjenigen, die nun einmal diesen Weg bezüglich des Wissens gebahnt
haben - deren Anzahl hinreichend abnimmt, registriert man, daß die
rättische Einheit fähig ist, etwas zu lernen.«[16] Die
ersten Labyrinthratten läßt William Small um 1900 durch ein
verkleinertes Modell des unter Wilhelm von Oranien/Wilhelm III. im Schloßgarten
von Hampton Court angelegten Labyrinths laufen. Die sich verzweigenden
Pfade dieses Heckengartens führen über die Entscheidungsfolge
links, rechts, rechts, links, links, links, links ins Zentrum. Aber, wie
Lacan sagt, auch wenn die Ratte wiederholt ans Ziel gelangt, bestätigt
nichts, daß sie damit auch um die prinzipielle Variabilität
oder Montierbarkeit des Labyrinths weiß. »Das Experiment des
Labyrinths [...] muß« daher »unfehlbar befragt werden
auf den Punkt hin, wie die rättische Einheit antwortet auf das, was
durch den Experimentator ausgeklügelt worden ist«.[17] Und diese
Frage muß lauten: Ist das, was die Ratte durch das Labyrinth hindurchfinden
läßt, Dressur oder Intelligenz?
III.
Es ist uns nun eine große Freude, Ihnen hier die gilbrethsche Licht- und Bewegungsspur einer besonderen Maus vorführen zu dürfen. Der Faden der Ariadne, den die Maus hier nicht abbeißt - so scheint es jedenfalls -, sondern auslegt, ist jedoch kein Produkt biomechanischer Regelkreise und ihrer Bewegung, kein Produkt behavioristischer Routinen. Es ist eine Maschine als Automat, die ihren Weg durchs Labyrinth findet. Ein Maschine, die sich nicht nur bewegt wie bei den Gebrüdern Weber, nicht nur sensomotorisch Bewegung reguliert wie bei Bernstein, nicht nur Gewohnheiten entwickelt und ein Gedächtnis für Bewegungen oder bestimmte Bewegungsbahnen. Wir haben es mit einem Wesen ganz neuer Art zu tun: Es findet seine Route, weil es eine Entscheidungsfunktion oder -routine eingebaut hat.
Für die Konstruktion eines solchen Automaten schlägt Shannon
eine Strategie ein, die seine Herangehensweise überhaupt charakterisiert:
Erstens radikale Vereinfachung des Problems; zweitens seine radikale Dikretisierung.
Shannons Labyrinth
Shannons Labyrinth besteht aus 25 Quadraten. Es gibt nur horizontale und vertikale Wände, pro Quadrat vier. Alle geometrischen Probleme sind also in dieser Anordnung ausgeschlossen. Die Wände können beliebig gesetzt oder weggenommen werden. Die Bewegung der Maus innerhalb der 25 Quadrate reduziert sich auf genau vier: Norden, Süden, Osten, Westen. Shannon nennt diese Richtungen »Vektoren«. Das heißt: Es gibt keine Kurven, keine Fourier-Transformationen, keine analogen Spuren also, sondern nur die reinen Himmelsrichtungen, archaisch wie in der kritischen Seefahrt bei Spengler. Jedes Quadrat hat denn einen insularen Mittelpunkt: STOP der Bewegung und Zeit der Entscheidung über die Fortsetzung des Wegs durchs Labyrinth.
Die Ingenieurskonstruktion von Shannons Maschine hebt die gesamte eben
skizzierte Geschichte von physiologischer Bewegung und Bewegungsaufzeichnung
in sich auf. Sie besteht erstens aus reiner Weberscher Motorik: einem Nord-Süd-Motor
und einem Ost-West-Motor. Dazu kommt zweitens ein Sensor: ein Finger, der
wenn er eine Wand berührt die Umkehr des Motors zum Mittelpunkt des
betreffenden Quadrats bewirkt. Es handelt sich um einen feed-back-Mechanismus
ganz nach dem Bernsteinschen Modell der Physiologie. Drittens aber besitzt
der Automat, genauer gesagt: jedes Quadrat, ein Gedächtnis. Es besteht
aus zwei Relais pro Quadrat, speichert damit 2^2 Fälle, das sind:
die vier Himmelsrichtungen. Zu Anfang ist der gesamte Speicher leer (in
insignifikanter Stellung). Gespeichert wird jedesmal die Richtung, in der
die Maus das Quadrat verläßt.
Das Entscheidende am Automaten ist die Entscheidung
Das Entscheidende am Automaten ist die Entscheidung selbst. Sie gründet, wie Shannon betont, nicht auf Wahrscheinlichkeiten oder Entropie, sondern auf zwei Strategien. Die erste, exploration-strategy, besteht darin, immer die Richtung neben (gegen den Uhrzeigersinn) der Richtung zu wählen, die im Speicher steht (und in einem noch nie bereisten Quadrat irgendeine Zufallsrichtung); die Richtung aber, aus der die Maus kommt, wird in dieser Strategie übersprungen (skipping device). Die zweite Strategie, genannt goal-strategy, ist von der ersten durch eine winzige Differenz unterschieden: die Maus nimmt in ihr eben die Richtung, die im Speicher des betreffenden Quadrats steht. [Vorführung des Programms »Theseus«].
Als Erfolgsergebnis formuliert und vorgeführt: Hat die Maus nach
Strategie eins einmal das Ziel gefunden, so wird sie es in Strategie zwei
sofort, ohne anzuecken und ohne Irrweg finden. -
Die Gefahr endloser Schleifen
Shannons Automat, der Versuch seiner Implementierung und die Erforschung
seines »Verhaltens« machen grundsätzliche Fragen sichtbar,
die Shannon selbst bereits zum Teil den über seine Apparatur gebeugten
Kybernetikern erläutert. Wie ist der Gefahr endloser Schleifen zu
begegnen? Nimmt der Automat immer den kürzesten Weg? Wie steht es
mit der »Lernfähigkeit«, wenn das Labyrinth verändert
wird? Wann muß jene Grundfunktion aller Gedächtnisfunktion eingeführt
werden: das vergessen? Eine der Fragen, die Shannon nicht mehr stellt,
wäre etwa die nach dem »Subjekt« des Gedächtnisses:
Hat das Labyrinth ein Gedächtnis oder die Maus? Im einen Fall ist
die Adressierbarkeit des Gedächtnisses als Karte und Lage des betreffenden
Quadrats vorausgesetzt. Wäre aber eine Maus konstruierbar, die zu
Anfang nicht weiß, an welcher Stelle sie sich befindet und im Laufe
der Erforschung des Labyrinths dynamisch eine Karte desselben erstellt?