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10. Juni 1998  Interaktiv

Klanghäppchen eilen durch das Internet 

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Für die Macher ist Netzradio Utopie, Spielzeug, Kunstwerk und politisches Instrument 

VON LEONIE LENTZ  

Einloggen und Ohren auf - die Textwüste Internet ist dank findiger Audiosoftware mittlerweile auch akustischer Raum geworden. Auf den Berliner "net.radio days '98" verbreiten noch bis Mittwoch Netzradio-Akteure internationaler Herkunft ihr Credo für das Experimentieren mit Klanghäppchen im Netz: do it yourself. 

 "Alles was du brauchst, ist dein Computer, ein CD-Laufwerk, dazu kaufst du dir irgend ein Mikrophon, das kaum etwas kostet - und dann hast du dein Internetradio. So einfach ist das", bringt Jinx von "Pararadio" aus Budapest seine Überzeugung auf den Punkt. Anzufangen sei das Wichtigste, nach und nach könne man dann sein Programm entwickeln und sich mit anderen Netzradiomachern zusammentun. Vor kaum einem Jahr von Schülern und Studenten gestartet, gibt "Pararadio" mittlerweile als "älteste" Netzradiostation Ungarns ihr Knowhow an Neueinsteiger weiter. 

 Den Spaß am Radiomachen auch mit ihren Hörern zu teilen, ist für die Klangproduzenten im Internet der logische zweite Schritt. Adam Hyde von "radio qualia" aus Adelaide in Australien ist seit vier Monaten mehrmals wöchentlich mit einem Musikprogramm live im Netz: "Mit unserem Programm kann man spielen. Man kann einen Song auswählen, von demselben Künstler mehr hören, wenn man ihn gut fand, mehr über ihn erfahren und ihm eine E-Mail schicken." Mit dem neuesten Projekt geht "radio qualia" noch einen Schritt weiter: "self.extracting.radio" macht den Zuhörer zum Mittäter, indem es ihm die Möglichkeit gibt, eigene Klangdateien auf dem Server abzulegen. 

 Der Kontakt zum Hörer, wenn der Hörer ihn denn will, ist im Sende-und Empfangsgerät Internet serienmäßig eingebaut. Andererseits bringt die weltweite Ausdehnung des Netzes für Programm-Macher auch ungewohnte Schwierigkeiten mit sich: "Man weiß nie, wer gerade da ist", schildert Elisabeth Zimmermann von "KunstRadio" aus Wien das Verhältnis zu einer Zuhörerschaft quer durch alle Zeitzonen. 

 Wie stehen die Initiatoren von Netzradiostationen zu herkömmlichen Radiosenden auf Hörfunkfrequenz? Die Leute von "radio qualia" nutzen ihre Erfahrung mit dem Rundfunkmedium für die Arbeit im Netz, "KunstRadio" (Wien) und "convex tv" (Berlin) sind als Hybridformate angelegt, die online und "on air" zu empfangen beziehungsweise abzurufen sind. Raitis Smits von "Radio Ozone" (Riga) hingegen sieht das Internet als besondere Chance: "Ich kann mir nicht vorstellen, daß wir im regulären Radio dazu kämen, etwas zu machen. Wir würden auf der Stelle rausgeworfen". 

 Für Josephine Bosma, Netzjournalistin und Vertreterin des Amsterdamer Piratenradios "Patapoe", kann Netzradio die Forderung nach offenen Frequenzen nicht ersetzen: "Wir werden immer Freiraum brauchen. Internetradio allein würde nicht genügen, denn über den Äther erreicht man so viel mehr Leute. Radio ist das flexibelste aller Massenmedien; mit großer Reichweite. Wenn wir das mit dem Internet verbinden, bekommen wir unglaubliche Möglichkeiten, über die Grenzen der Medien und über die Grenzen von Zeit hinweg zu kollaborieren". Wo Piratenradio nicht geduldet wird, schlägt Bosma vor, Internetprogramme an öffentlichen Orten per Lautsprecher unter die Leute zu bringen - eine Kombination, die "convex tv" in Berlin schon erprobt. 

 Vom Massenmedium ist das Internetradio derzeit noch weit entfernt, nicht nur weil das Modem am heimischen PC sich oft genug als zu enger Flaschenhals erweist. Nichtkommerzielle Audioserver können derzeit in der Regel 60 Streams, also 60 Zugriffsmöglichkeiten, gleichzeitig anbieten - darüber hinaus bitten die Softwarevertreiber kräftig zur Kasse. 

 Ist das schließlich überhaupt als Radio zu bezeichnen, was als Audiodatei im Netz zu laden oder per livestream aufzufangen ist? Pit Schultz vom Berliner Veranstalter mikro e.V. ist überzeugt, daß dies kein endgültiger Name ist: "In ein paar Jahren werden wir es nicht mehr Netzradio nennen". Bis dahin dient die Formel "net.radio" den Audiobegeisterten im Internet als Metapher für den öffentlichen Umgang mit digitalem Klang: so ist sie Utopie, Spielzeug, Kunstwerk oder politisches Instrument, je nachdem. 

 Die Abschlußveranstaltung der "net.radio days '98" findet am heutigen Mittwoch um 20 Uhr im WMF-Club, Johannisstraße 19, in Berlin-Mitte, statt. Infos unter www.mikro-berlin.org. Links zu Webseiten internationaler Netzradiostationen unter: www.xchange.re-lab.net. Oder direkt über: "Pararadio", Budapest: www.c3.hu/para. "radio qualia", Adelaide/Australien: www.va.com.au/radioqualia. "KunstRadio", Wien: www.thing.at/orfkunstradio. "Radio Ozone", Riga: www.ozone.re-lab.net. "convex tv", Berlin: www.art-bag.net/convextv

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