NETZ-RADIO
Von Sonja Zekri Radio machen kann jeder - aber nicht jeder wird gehört. Netz-Radio ist von allen, für alle und überall. Die kleine Gemeinde von avantgardistischen Utopisten traf sich bei den Net.Radio.Days '98 in Berlin. Ein hustender Gorilla. Oder zwei kopulierende Preßlufthämmer. Die ziemlich dicke Luft in der Baracke gegenüber der Berliner Museumsinsel schwappt im Rhythmus des Keuchens. Disco-Musik sucht sich den Weg in die Gehörgänge, ab und an spricht eine junge Frau, die sich selbst "Bambi" nennt, ins Mikro. Ihren Lieblingssatz sagt sie oft und vieldeutig: "Imagine this room as the entire universe." An der Wand läßt sich ein Web-Chat verfolgen. Es geht um Käse-Cracker, menschliche Bedürfnisse und technische Hindernisse - total normal. Unüblich aber ist, daß der hustende Gorilla von Borut aus Ljubljana stammt. Borut ist mit Bambi in Berlin über das Netz-Radio verbunden, er schickt ihr Klang-Dateien, die Bambi oder ein anderer Empfänger aufnehmen, verändern und via Internet in die ganze Welt schicken können. An der Wand in Berlin kommentiert er im Chat seine Klang-Sendung: "A hugh (sic!) Gorilla", schreibt er für alle, die noch der Preßlufthammertheorie anhängen. Nach Berlin und Ljubljana schalten sich später London, Rennes und Graz ein. Paris versucht es, scheitert aber. Das Resultat dieser Radionet-Konferenz-Schaltung wirkt wie eine wüste Kakophonie. Doch das Ergebnis ist nichts, der Event ist alles. Willkommen zum Life-Stream, der Avantgarde des Netz-Radios. Die Pioniere des Netz-Hörfunks sind eine überschaubare, aber internationale Gruppe: Groß genug, um etwas auf die Beine zu stellen, klein genug, um kreativ und flexibel zu sein. Individuelle Sendestationen gehören dazu, Piratenradios, Netzkünstler und Kommerzradios. Ihre Zahl ist überschaubar, ihr Kontakt fast nur auf das Netz beschränkt, und die Aussicht, bei den Net.Radio.Days ´98 in Berlin die Mitglieder ihrer Mailing-List real begrüßen zu können, hatte sie aus der ganzen Welt angelockt: lettische Netzwerk-Pioniere aus Riga, die mit "x-change" einen Pool der experimentellen Szene bilden, die Organisatorin des Wiener Kunstradio ORF, Heidi Grundmann und die Fluxus-Gruppe des Projektes "ser.extended" von Radio Qualia aus Australien; andere Gruppen stammen aus Tokio, Budapest, Zürich oder Kassel. Einige planen einmalige Hör-Experimente zu bestimmten Anlässen, wie etwa das Timezone-Radio von "micro e.V." auf der "ars electronica", für das aus jeder Zeitzone nacheinander eine Stunde lang Radio gesendet werden soll; andere schicken wöchentlich gemeinsame Sendungen aus verschiedenen Teilen der Welt ins Internet. Radio Internationale Stadt nutzt die gigantische Speicherkapazität des Internet, um große Audio-Archive anzulegen, ähnlich einem virtuellen Plattenschrank. Andere Radio-Fetischisten wie Pit Schultz aus Berlin träumen bereits vom digitalen Breitband-Empfänger im Auto, mit dem sie Internet-Stationen in bester Qualität direkt vom Netz empfangen können. "Wer käme schon auf die Idee, Radio aus dem Telefon zu hören", spottet Schultz angesichts der enormen Telefon-Kosten der Internet-Radio-Macher. Und spätestens jetzt wird klar: Der Begriff "Netz-Radio" ist eine krasse Verniedlichung. Das gute alte Radio, das man zum Kochen ein- und zum Fernsehen wieder ausschaltet, hat mit der Technik, den Inhalten und den Kommunikationsstrukturen des Netz-Radios wenig mehr gemeinsam als das Ohr als Zielorgan. Zwar haben auch öffentlich-rechtliche Radio-Stationen das Netz inzwischen für sich entdeckt, um dort ihre Sendungen fast parallel zur Ausstrahlung im Äther zu verbreiten. Aber für den Medienwissenschaftler Geert Lovink bleibt dies kaum mehr als eine minderwertige Zweitverwertung. Selbst die Rettung des serbischen Radios B92 war eher ein Fall von Amtshilfe im Netz. Der Sender war 1992 von der Regierung verboten worden, schickte kurzerhand Files mit seinem Programm ins Ausland, wo es wiederum nach Serbien hinein ausgestrahlt wurde. Die Regierung gab nach. B 92 durfte wieder aus Belgrad senden. Kein öffentlich-rechtlicher Sender produziert spezielle Programme für das Netz. Gerade dies aber macht für Lovink das jetzige Stadium so reizvoll. Die Medien-Branche habe das Netz-Radio noch nicht entdeckt. Der Markt sei viel zu klein, die Gemeinschaft der Sender so groß wie eine Mailing-List, die Programme künstlerisch-individuell. Noch habe der Kampf um die Information nicht begonnen, nicht um Rechte und nicht um Quoten. "Das spannendste am Netz-Radio ist die Auflösung von Monopolen" schwärmt Lovink klassenkämpferisch. "Eine Person kann ein Programm machen, das auf der ganzen Welt zu hören ist." Das alte Radio-Modell des Top-Down, also von einer Station herab auf viele Menschen, gilt im Netz nicht länger. Eine Konkurrenz zum Massenmedium Radio könne damit gar nicht erst aufkommen. "Die meisten Menschen wollen im Internet nur konsumieren, nicht produzieren", sagt Inka Harms von Mikro e. V., einem der Mitorganisatoren. Alles ist offen im Netz-Radio. Während die einen das Geheimnis in den Inhalten sehen, pochen die anderen auf die einzigartige Struktur der Kommunikation, wieder andere - wie Lovink - sehen das virtuelle Radio als politische Nische im Imperium der Medienkonzerne. Die Grenzen zwischen Netz und Radio werden durchlässig: Das "Kunstradio" beispielsweise produziert computergenerierte Hör-Kunststücke, die der ORF dann über den Äther verbreitet. "Den Leuten, die das Geld haben, fehlen die Ideen", sagt Pit Schultz triumphierend. Doch die Schonzeit für das Netz-Radio könnte bald vorbei sein. Bill Gates hat Anteile an der Firma Real Media gekauft, die Software für solche Klangdateien anbietet. Der Ursprung des Netz-Radios aber liegt im Internet selbst, genauer: bei den Usern, ihrer Phantasie und ihrer Hartnäckigkeit. Dieter Daniels von der Hochschule für Grafik in Leipzig, forderte, für die Entstehung neuer Medien nicht nur politische, wirtschaftliche oder kulturelle Gründe ins Feld zu führen: "Die Utopie ist die Mutter aller Medien." SPIEGEL ONLINE 24/1998 - Vervielfältigung
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